Joscha Winkhardt-Enz, Mitarbeiter der Beobachtungsstation FoyersBasel, hat im Rahmen eines Handlungsforschungsprojekts an der Hochschule Koblenz Zusammenhänge zwischen Suizidgedanken und anderen EQUALS-Daten untersucht
Einleitung und Fragestellungen
Jugendliche, insbesondere die stationär untergebrachten, stellen eine besonders vulnerable Gruppe für Suizidgedanken, definiert als Überlegungen einer Person, ihr eigenes Leben zu beenden, dar. Diese Jugendlichen sind oft multiplen Belastungen und potenziell traumatisierenden Erfahrungen ausgesetzt, die ihr Risiko für suizidale Gedanken erhöhen. Studien zeigen, dass die Prävalenz von Suizidgedanken bei diesen Jugendlichen bei etwa 24.7% liegt, verglichen mit 11.4% bei Jugendlichen ausserhalb von Jugendhilfeeinrichtungen (Evans et al. 2017). Schätzungen gehen sogar von einer Prävalenz von bis zu 50% aus (Zimmermann & Kindler 2023).
Trotz der ernsten Lage zu Suiziden und Suizidgedanken in der Schweiz (Bundesamt für Statistik 2017, 2023, 2024) ist die vorhandene Forschung eher begrenzt. Das Handlungsforschungsprojekt zielte darauf ab, diese Forschungslücke zu schliessen, und hat dazu mehrere Hypothesen formuliert, um ein besseres Verständnis für die Komplexität von Suizidgedanken und weiteren psychosozialen Belastungsindikatoren zu entwickeln. In diesem Beitrag werden die folgenden Zusammenhänge beschrieben:
- Es besteht eine Korrelation zwischen anderen klinischen Symptomwerten und der Häufigkeit von Suizidgedanken. Publizierte Studien bestätigen, dass ängstlich-depressive Neigungen ein erhöhtes Risiko für Alkohol- und Drogenkonsum sowie Suizidalität darstellen.
- Misshandlungserfahrungen in der Kindheit korrelieren mit einem vermehrten Auftreten von Suizidgedanken im Jugendalter. Diese Hypothese basiert auf zahlreichen Publikationen, die beschreiben, dass körperliche, emotionale und sexuelle Misshandlungen, langfristig die psychische Gesundheit beeinträchtigen und die Suizidalität erhöhen.
- Eine zunehmende Anzahl von Fremdunterbringungen ist mit einer steigenden Tendenz zu Suizidgedanken verbunden.
Methode
Analysiert wurden 1'950 Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren (Durchschnittsalter = 14.6 Jahre) aus über 40 verschiedenen stationären Einrichtungen der Schweiz, die in den letzten 12 Jahren inhaltlich passende Daten (s.u.) über das (Online-)Tool von EQUALS erhoben haben. Zwei Drittel der Stichprobe (67.2%) waren weiblich und 32.4% männlichen Geschlechts. Zusätzlich wurden acht Jugendliche (0.4%) als divers klassifiziert.
Für die Datenerhebung klinischer Symptome wurde das Massachusetts Youth Screening Instrument – Second Version (MAYSI-2; Grisso et al. 2012) verwendet. Es handelt sich dabei um einen Screening-Fragebogen, der darauf ausgelegt ist, klinische Symptome zu erfragen, die während eines stationären Aufenthalts besonders beachtet werden sollten. Die Skalen umfassen Alkohol- und Drogengebrauch (AD), Ärgerlich-Reizbar (ÄR), Depressiv-Ängstlich (DÄ), Somatische Beschwerden (SB) und Suizidgedanken (SG). Die Skalen für Denkstörungen und traumatische Erlebnisse wurden in dieser Studie nicht erfasst, da Denkstörungen bei weiblichen Jugendlichen sehr selten sind und nicht normiert werden konnten. Zudem bietet die Skala für traumatische Erlebnisse keine klaren Cut-off-Werte und wird besser durch den CTQ (s.u.) abgedeckt. Besonders hervorzuheben ist die Skala der Suizidgedanken, die signifikante Korrelationen mit etablierten psychometrischen Instrumenten wie dem Suicide Ideation Questionnaire und dem Children’s Depressive Inventory aufweist.
Zur retrospektiven Selbstbeurteilung von Misshandlungserfahrungen wurde die Kurzversion des Childhood Trauma Questionnaire Short-Form (CTQ-SF; Bernstein et al. 1994) eingesetzt. Dieser ermöglicht eine differenzierte Auswertung, um die Schwere der Misshandlungserfahrungen in den Bereichen Emotionaler Missbrauch (EM), Körperlicher Missbrauch (KM), Sexueller Missbrauch (SM), Emotionale Vernachlässigung (EV) und Körperliche Vernachlässigung (KV) zu bestimmen.
Daneben wurden die Informationen zur Platzierungsvorgeschichte, die im Rahmen der eigens für EQUALS entwickelten Anamnese erfasst werden, in die Analysen aufgenommen. Während MAYSI-2 und CTQ-SF auf Selbstbeurteilungen basieren, wurden diese Daten von den sozialpädagogischen Bezugspersonen angegeben.
Im Handlungsforschungsprojekt wurden unterschiedliche statistische Auswertungen durchgeführt. In diesem Beitrag werden die Ergebnisse aus den logistischen Regressionsanalysen berichtet.
Ergebnisse
- Die statistische Analyse der Daten aus der Studie zeigt signifikante Zusammenhänge zwischen allen anderen im MAYSI-2 erfassten Risikofaktoren und dem Auftreten von Suizidgedanken unter Jugendlichen. Insbesondere weisen depressive und ängstliche Zustände den stärksten Anstieg der Wahrscheinlichkeit für Suizidgedanken auf (p < 0.001). Jugendliche mit solchen Symptomen haben eine 7.4-fach höhere Wahrscheinlichkeit (sog. Odds Ratio, kurz OR), klinisch relevante Suizidgedanken zu entwickeln, verglichen mit Jugendlichen ohne diese Symptome. Ähnlich signifikant, wenn auch in geringerem Ausmass sind die Zusammenhänge bei Ärgerlichkeit und Reizbarkeit (p < 0.001, OR = 1.6), somatischen Beschwerden (p < 0.001, OR = 2.5), Alkohol- und Drogengebrauch (p < 0.01, OR = 1.4).
- Die Regressionsanalyse, die den Einfluss der verschiedenen Misshandlungsformen auf die Suizidgedanken als abhängige Variable untersucht, zeigte, dass emotionaler Missbrauch einen signifikanten Einfluss auf die abhängige Variable hatte (p < 0.001). Der Exp(B)-Wert, der wie eine OR interpretiert werden kann, von 1.9 bestätigt, dass emotionaler Missbrauch das Risiko für Suizidgedanken nahezu verdoppelt. Sexueller Missbrauch zeigt ebenfalls einen signifikanten positiven Einfluss auf die abhängige Variable (p < 0.001, Exp(B) = 1.3)
- Der Zusammenhang zwischen der Anzahl früherer Fremdunterbringungen und dem Auftreten von Suizidgedanken war - ebenfalls - statistisch signifikant (p < 0.01, OR = 1.1).
Schlussfolgerungen
Insgesamt lässt sich aus den Ergebnissen der Studie schliessen, dass das Risiko für Suizidgedanken unter Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe insbesondere durch eine komplexe Wechselwirkung aus psychischen Symptomen, traumatischen Erlebnissen und sozialen Stressfaktoren beeinflusst wird. Ein effektiver Ansatz zur Prävention von Suizidgedanken sollte daher alle diese Dimensionen berücksichtigen und miteinander verknüpfen.
Wichtig ist die kontinuierliche Betreuung, die den Jugendlichen über einen längeren Zeitraum hinweg zur Seite steht. Ein abruptes Verlassen von sicheren, vertrauten Strukturen, wie etwa bei Heimwechseln, kann die psychische Belastung und das Risiko für Suizidgedanken weiter verstärken. Demgegenüber kann eine kontinuierliche Betreuung einen sicheren Ort bieten, der Bindungserfahrungen ermöglicht, die für besonders belastete Jugendlichen heilsam sein könnten.
Besonders wichtig ist, dass die Fachkräfte in der stationären Jugendhilfe Risikofaktoren wie depressive oder ängstliche Symptome frühzeitig erkennen sollten und entsprechend handeln. Eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen pädagogischen, psychologischen und psychiatrischen Fachpersonen würde hierzu eine besonders vielversprechende Basis bieten. Danach gilt es, entsprechend zu handeln, z.B. durch eine psychologische Unterstützung für Jugendliche mit Anzeichen von Depressionen und Ängsten. Aufgrund der oftmals langen Wartezeiten für externe Therapieplätze, können im besten Fall können sogar interne Psychotherapien angeboten werden.
Letztlich sind bei besonders belasteten Jugendlichen auch eine regelmässige Verlaufskontrolle bis zum Austritt sowie eine gegebenenfalls anschliessende ambulante Versorgung unerlässlich, um diese für einen erfolgreichen Übergang in ein selbstständiges Leben zu unterstützen.
Eine Zusammenfassung des Beitrags finden Sie auf dem zugehörigen EQUALS-Factsheet.
Literatur
- Bernstein, David P.; Fink, Laura; Handelsman, Leonard; Foote, Jeffrey (1994): Childhood Trauma Questionnaire.
- Bundesamt für Statistik (2017): Suizid nach Alter und Geschlecht (ohne assistierten Suizid). Online verfügbar unter https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/aktuell/neue-veroeffentlichungen.assetdetail.3802789.html.
- Bundesamt für Statistik (2023): Bevölkerung nach Migrationsstatus und Staatsangehörigkeit - 2022 | Diagramm | Bundesamt für Statistik. Online verfügbar unter https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/migration-integration/nach-migrationsstatuts.assetdetail.28066474.html.
- Bundesamt für Statistik (2023): Suizid nach Alter und Geschlecht (ohne assistierten Suizid), 2018 - 2022, 11.12.2023. Online verfügbar unter https://www.bfs.admin.ch/asset/de/27925048.
- Bundesamt für Statistik (2024): Anzahl der Suizide in der Schweiz nach Selbsttötungsart und Altersgruppe im Jahr 2022. Online verfügbar unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/306904/umfrage/anzahl-der-suizide-in-der-schweiz-nach-methode-und-altersgruppe.
- Evans, Rhiannon; White, James; Turley, Ruth; Slater, Thomas; Morgan, Hel-en; Strange, Heather; Scourfield, Jonathan (2017): Comparison of sui-cidal ideation, suicide attempt and suicide in children and young people in care and non-care populations: Systematic review and meta-analysis of prevalence. In: Children and Youth Services Review 82, S. 122–129. DOI: 10.1016/j.childyouth.2017.09.020.
- Grisso, Thomas; Paiva-Salisbury, Melissa; Perrault, Rachael; Barnum, Richard; Williams, Valerie; Fusco, Samantha (2012): The Massachusetts Youth Screening Instrument-Version 2 (MAYSI-2): Comprehensive Research Review. University of Massachusetts. Worcester.
- Zimmermann, Janin; Kindler, Heinz (2023): Folgeabwägung bei außerfamiliärer Unterbringung. In: Jörg M. Fegert, Thomas Meysen, Heinz Kindler, Katrin Chauviré-Geib, Ulrike Hoffmann und Eva Schumann (Hg.): Gute Kinderschutzverfahren. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg, S. 497–515.