Wie hier bereits zweimal publiziert wurde, sind die selbstberichteten psychischen Belastungen unter den Neueintritten in die EQUALS-Institutionen in den letzten Jahren angestiegen und haben die Werte aus den Fremdurteilen übertroffen. Die Diskrepanz nimmt sogar stetig zu.
Einleitung
Ergebnisse aus den EQUALS-Daten vom September 2021 und November 2022 hatten gezeigt, dass die selbstberichteten psychischen Belastungen unter den neu eingetretenen Jugendlichen seit ca. Herbst 2020 signifikant zugenommen hatten (siehe Factsheet 11 und Factsheet 12). Die Durchschnittswerte aus den Fremdbeurteilungen durch die sozialpädagogischen Bezugspersonen blieben auf ihrem (hohen) Niveau, wurden nun aber durch die Selbsturteile erstmals übertroffen. Damit hatte auch die durchschnittliche Abweichung zwischen den beiden Perspektiven zugenommen. Bereits damals fragten wir uns, ob die Fachpersonen zunehmend unterschätzen, wie belastet sich die Jugendlichen wirklich fühlen(?) und hielten deshalb die Entwicklungen weiter unter Beobachtung. Dieser Beitrag bildet damit das zweite Update dazu, wie sich der Trend weiterentwickelt hat.
Methode
Die Angaben zu den psychischen Belastungen wurden über die Beurteilungen mit zwei international etablierten Breitbandverfahren zum Screening von psychischen Symptomen bei Kindern und Jugendlichen ermittelt, welche die meisten Institutionen, die bei EQUALS teilnehmen, anwenden: Die Child Behaviour Checklist (CBCL; Fremdurteil) und der Youth Self Report (YSR: Selbsturteil). Die Fragebögen messen mit ihren Hauptskalen die gesamthafte psychische Belastung (Gesamtwert) und differenzieren zudem zwischen internalisierenden Belastungen (z.B. depressive oder ängstliche Symptome) und externalisierenden Auffälligkeiten (z.B. aggressives oder regelbrechendes Verhalten).
Für die Auswertung wurden Daten aus zehn stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen in der Schweiz sowie drei in Deutschland berücksichtigt. Diese Institutionen erfassten routinemässig die Neueintritte zwischen dem 15. März 2018 und dem 14. September 2024 anhand der beschriebenen Fragebögen – sowohl in Form von Fremd- als auch Selbstbeurteilungen.
Die resultierende Stichprobe umfasste 737 Jugendliche im Alter von 12 bis 18 Jahren (M = 15,4, SD = 1,4). Da vor allem Einrichtungen für junge Frauen die Fragebögen standardmässig einsetzten, war die Mehrheit weiblich (76,0%). Bei fünf Jugendlichen wurde eine diverse Geschlechtsidentität angegeben.
Für die Analysen wurden die durchschnittlichen Belastungswerte zwischen Gruppen, abhängig vom Zeitpunkt des Eintritts (jeweils in Halbjahresintervallen), mittels allgemeiner linearer Modelle verglichen. Obwohl sich die Gruppen hinsichtlich Alter und Geschlechterverteilung nicht unterschieden, wurden diese Variablen in den Modellen statistisch kontrolliert.
Ergebnisse
Die bereits in Factsheet 11 und Factsheet 12 beobachtete Entwicklung setzte sich fort: Die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung hat sich insbesondere bei den internalisierenden Belastungen und im Gesamtwert weiter vergrössert.
Zusammenfassend ergibt sich:
- In den Selbstbeurteilungen stiegen die durchschnittlichen Werte für internalisierende Belastungen (z. B. ängstliche oder depressive Symptome) sowie der Gesamtwert seit Herbst 2020 an. Nach einem vorübergehenden Rückgang im Jahr 2023 sind die Werte mittlerweile erneut auf ein besorgniserregendes Niveau gestiegen. Der Einfluss des Eintrittszeitraums auf die Belastungsausprägung war statistisch signifikant.
- In den Fremdbeurteilungen durch sozialpädagogische Bezugspersonen ergaben sich keine Hinweise auf eine Veränderung der wahrgenommenen Belastungen.
- Beim Vergleich der Selbst- und Fremdeinschätzungen zeigte sich, dass die Werte der Jugendlichen nach ihrem Anstieg durchgehend über denen der Bezugspersonen lagen. Dieser Unterschied war in allen Hauptskalen statistisch signifikant.
Eine grafische Darstellung dieser Ergebnisse finden Sie im Factsheet Nr. 16.
Diskussion
Die Ergebnisse zeigen, dass Jugendliche ihre eigenen psychischen Belastungen höher einschätzen als ihre Bezugspersonen dies tun. Während es verschiedene Erklärungsansätze gibt, fehlt bislang eine eindeutige Erklärung für diese Diskrepanz. Dennoch lassen sich mehrere Hypothesen formulieren, die diesen Unterschied erklären könnten:
Warum nehmen Jugendliche ihre Belastungen stärker wahr?
In den vergangenen Jahren zeigen verschiedene Studien, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene weltweit zunehmend psychische Belastungen erleben. Dieser Anstieg kann durch mehrere Faktoren erklärt werden:
- Zunehmender gesellschaftlicher und schulischer Druck
Leistungsdruck in der Schule, Zukunftsängste und soziale Erwartungen sind in den letzten Jahren gestiegen. Besonders durch soziale Medien werden Vergleiche mit anderen verstärkt, was zu einem höheren Stresserleben beitragen kann. Jugendliche fühlen sich dadurch möglicherweise häufiger überfordert und bewerten ihre psychische Belastung entsprechend höher.
- Erhöhte Sensibilisierung für psychische Gesundheit
Das Bewusstsein für psychische Erkrankungen ist gestiegen. Jugendliche sind durch soziale Medien, Bildungskampagnen und offenere gesellschaftliche Diskussionen zunehmend für ihre eigene psychische Verfassung sensibilisiert.
- Mehr Unsicherheiten in einer komplexeren Welt
Nicht nur die COVID-19-Pandemie hat erhebliche Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von uns allen gehabt. Globale Krisen wie der Klimawandel, wirtschaftliche Unsicherheiten und geopolitische Konflikte beeinflussen das Sicherheitsgefühl vieler Jugendlicher. Die ständige Verfügbarkeit von Nachrichten über Krisen und Katastrophen kann zu einem Gefühl der Hilflosigkeit und verstärktem Stress führen.
Warum weicht die Fremdeinschätzung von der Selbsteinschätzung ab?
Neben den allgemeinen Erklärungen für den Anstieg der psychischen Belastungen lassen sich auch spezifische Gründe für die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdurteilen diskutieren:
- Eingeschränkte Einblicke der Fachkräfte
Die sozialpädagogischen Fachpersonen haben in der letzten Zeit weniger Zugang zum emotionalen Innenleben der Jugendlichen, gerade weil die zunehmenden internalisierenden Belastungen nicht immer direkt erkennbar sind. Besonders bei still leidenden Jugendlichen bleibt ein Grossteil der psychischen Belastung daher möglicherweise unbemerkt.
- Kommunikative Barrieren
Jugendliche könnten sich in Gesprächen mit Fachpersonen weniger offen über ihre Emotionen äussern – sei es aus Angst vor Stigmatisierung oder Konsequenzen, die sie möglicherweise als negativ antizipieren (wie z.B. ‘dann schicken sie mich in Therapie’). In den Selbstbeurteilungen am Computer fühlen sie sich hingegen sicherer, ihre tatsächlichen Belastungen anzugeben.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der aus der Praxis häufig rückgemeldet wird, ist, dass sich viele Jugendliche – insbesondere auch die schwerer belasteten –übermässig mit ihren Smartphones beschäftigen. Abgesehen davon, dass die Fixierung auf sozialen Medien als weiterer Stressor angesehen werden kann (s.o.), wird wahrgenommen, dass diese jungen Menschen die Beziehungsangebote schlechter annehmen und weniger häufig erreicht werden, um pädagogisch erkenntnisreiche Gespräche führen zu können.
Implikationen
Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass die Wahrnehmungskompetenz der Fachpersonen weiter geschärft werden sollte. Schulungen zur Sensibilisierung für verborgene psychische Belastungen könnten dazu beitragen, Jugendliche besser zu unterstützen. Zudem sollten standardisierte Selbstbeurteilungen, wie sie bei EQUALS angeboten werden (www.equals.ch), regelmässig eingesetzt werden, um potenzielle Belastungen frühzeitig zu erkennen.
Vor dem Hintergrund der Beobachtung, dass insbesondere auch psychisch belastete Jugendliche «zu viel» Zeit mit ihren Smartphones verbringen und dadurch weniger empfänglich für Beziehungsangebote sind, erscheint die Entwicklung und Umsetzung innovativer Medienkonzepte, die auch für die Jugendlichen attraktiv sind, als ein sich anbietender Ansatzpunkt. Diese Konzepte sollten einerseits den reflektierten Umgang mit digitalen Medien fördern, andererseits klare Strukturen und Grenzen für deren Nutzung vorgeben. Ziel ist es, alternative Beziehungserfahrungen und sinnstiftende Aktivitäten ausserhalb des digitalen Raums zu ermöglichen sowie die Medienkompetenz der Jugendlichen zu stärken. Auf diese Weise kann der Kontakt zu den jungen Menschen verbessert und pädagogische Prozesse wirksamer gestaltet werden.
Darüber hinaus braucht es weitere Studien, die sich mit den Ursachen der Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdurteilen befassen. Eventuell wäre es wertvoll, zu untersuchen, ob bestimmte Gruppen – etwa hinsichtlich des Geschlechts, sozialer Herkunft oder spezifischer Belastungsfaktoren – stärker betroffen sind als andere. Ebenfalls wäre der etwaige Einfluss von Belastungen, die seitens der Mitarbeitenden bestehen, zu untersuchen.
Zuletzt wäre aber vor allem unerlässlich, dass belegt wird, ob die zunehmende Diskrepanz zwischen Fremd- und Selbsturteilen tatsächlich auch mit anderen Veränderungen in einem Zusammenhang steht. Z.B. ob die vermeintlich „schlechtere Wahrnehmung der Fachkräfte“ negative Folgen nach sich zieht – etwa ungünstigere Verläufe, vermehrte Psychiatrie-Einweisungen oder häufigere Abbrüche von Unterbringungen. Dies könnte klären, ob es sich tatsächlich um eine Verschlechterung der Wahrnehmung handelt oder vielmehr um eine zunehmende Selbstintrospektion/Offenheit der Jugendlichen. Es bleibt spannend.
Eine Visualisierung der Ergebnisse und Zusammenfassung des Beitrags finden Sie auf dem zugehörigen EQUALS-Factsheet.