Seit der zweiten Welle zeichnen die EQUALS-Daten zur psychischen Belastung der eintretenden Kinder und Jugendlichen ein nie zuvor beobachtetes und beunruhigendes Bild.
Einleitung
In der Zeit des ersten Lockdowns war es Integras und dem EQUALS-Team wichtig, die Situation der jungen Menschen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe wissenschaftlich zu beschreiben. Man hätte befürchten können, dass sich die oft gravierenden Kontaktbeschränkungen auf die in den sozialpädagogischen Institutionen betreuten und häufig psychisch schwer belasteten jungen Menschen besonders stark auswirkten. Sie konnten oft über Wochen ihre Eltern nicht sehen, waren auf ihren Wohngruppen isoliert, die gewohnte Tagesstruktur brach teils weg und man konnte auch davon ausgehen, dass sich einige grosse Sorgen um ihre Familien machten. Integras und das EQUALS-Team lancierten deshalb die Umfrage „CorSJH“. Die Ergebnisse waren aber eher beruhigend und entsprachen den Rückmeldungen aus der Praxis: Dank des ausserordentlichen Engagements der Fachkräfte konnten die spezifischen Stressoren des ersten Lockdowns für die Kinder und Jugendlichen überwiegend gut aufgefangen werden. Im Vergleich zu Gleichaltrigen ausserhalb der Institutionen schien es ihnen nicht schlechter, sogar eher besser zu gehen (De Quervin et al. 2020, Ravens-Sieberer et al. 2021).
Doch wie ging und geht es weiter? Seit dem ersten Lockdown ist über ein Jahr vergangen und Corona prägt immer noch unseren Alltag. Sollten sich die Warnungen bewahrheiten, dass sich die realen Folgen der Situation - insbesondere bei vulnerablen Bevölkerungsgruppen - erst verzögert und dann auch langwierig bemerkbar machen könnten (z.B. Fegert/Vitiello/Plener/Clemens 2020, UNICEF 2020)? Gemäss der Swiss Corona Stress Study war seit der zweiten Welle ein weiterer Anstieg der negativen Folgen für das psychische Wohlbefinden für die Bevölkerung zu beobachten (De Quervin et al. 2020) und Experten des Kindesschutzes bleiben alarmiert (siehe z.B. Kinderschutzradar vom Kanton Zürich 2021). Zudem berichten viele Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe von zunehmenden Platzierungsanfragen von jungen Menschen aus scheinbar besonders belasteten Familiensystemen. So wie in allen psychosozialen Hilfesystemen wurden die Wartelisten in der letzten Zeit länger und länger.
Integras und das EQUALS-Team verfolgen deshalb sehr aufmerksam, die Entwicklungen in den EQUALS-Daten zu den in den Institutionen betreuten jungen Menschen. Ziel ist ebenso, die Ergebnisse von CorSJH durch weitere Analysen schrittweise zu ergänzen. Der vorliegende Beitrag untersucht, ob sich in den Daten Veränderungen in Bezug auf die psychische Belastung der jungen Menschen zeigen, die seit Beginn der Pandemie in der stationären Kinder- und Jugendhilfe aufgenommen wurden. Haben Ängste und depressive Symptome zugenommen? Wie ist es mit externalisierenden Problemen, wie z.B. aggressiven Verhaltensweisen? Wie sehen es die sozialpädagogischen Bezugspersonen? Wie sehen dies die Kinder und Jugendlichen selbst?
Methode
Die Auswertungen basieren auf den Daten aus zehn Institutionen aus der Schweiz und drei aus Deutschland, welche in den letzten Jahren sehr regelmässig und kontinuierlich Fremd- und Selbsturteile zur psychischen Belastung der aufgenommenen Kinder und Jugendlichen erhoben haben. Konkret wird dies mit der Child Behaviour Checklist (CBCL; Döpfner et al. 1994) und dem Youth Self Report (YSR; Döpfner et al. 1994) umgesetzt. Diese Breitbandverfahren zum Screening von psychischen Symptomen bei Kindern und Jugendlichen sind international in der Praxis und der Forschung etabliert. Die sich aus den Befragungen ergebenden Belastungswerte können in drei Hauptskalen (Gesamtwert, internalisierende Probleme und externalisierende Probleme) zusammengefasst werden.
Für die Analyse der Entwicklungen der psychischen Belastung über die Zeit hinweg wurden sechs Gruppen nach Eintrittsdatum in die stationäre Unterbringung gebildet, welche jeweils ein halbes Jahr umspannten, und miteinander verglichen. Die erste Gruppe war zwischen dem 15.03.2018 und dem 14.09.2018 eingetreten, die letzte zwischen dem 14.09.2020 und dem 15.03.2021. Um den direkten Vergleich zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung zu ermöglichen, wurden diejenigen Datensätze berücksichtigt, bei welchen die Urteile aus beiden Perspektiven vorlagen. Dies resultierte in einer Stichprobe von 408 Kindern und Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren (M=15.0, SD=1.3). Da mehr Institutionen für junge Frauen EQUALS mit der notwendigen Frequenz nutzen, war das weibliche Geschlecht in der Stichprobe übervertreten (77.9%).
Ergebnisse
- Gemäss der Fremdbeurteilungen durch die sozialpädagogischen Bezugspersonen mit der CBCL blieb die psychische Belastung unter den eingetretenen Kindern und Jugendlichen bis zum Frühling 2021 im Verlauf der letzten Jahre auf einem konstant hohen Niveau. In jeder Gruppe wurden bei jeweils rund 80% Probleme beschrieben, die als klinisch auffällig gelten. Es gab somit keine Hinweise auf eine pandemiebedingte Ab- oder Zunahme der wahrgenommenen Belastung.
- In den Selbstbeurteilungen sieht es hingegen ganz anders aus. Hier hat die psychische Belastung durchschnittlich in allen Hauptskalen und bemerkenswerterweise erst seit Herbst 2020 zugenommen. Im Gesamtwert (F(5, 408) = 2.93, p = .013) sowie bei den externalisierenden Problemen (F(5, 408) = 3.17, p = .008) ist diese Zunahme gemäss Varianzanalysen statistisch klar signifikant. Bei den internalisierenden Problemen ist der Anstieg tendenziell signifikant (F(5, 408) = 1.93, p = .089). In der letzten Gruppe (Eintritt zwischen 14.09.2020 und dem 15.03.2021) benannten 90% der Kinder und Jugendlichen Schwierigkeiten, welche als klinisch auffällig zu bezeichnen sind.
- Im Vergleich der Selbst- und Fremdurteile zeigt sich schliesslich ein noch nie vorher beobachtetes Bild. Bisher lag die psychische Belastung aus Sicht der sozialpädagogischen Bezugspersonen – so wie in fast alle Studien in Hochrisikogruppen (z.B. Handwerk/Larzelere/Soper/Friman 1999) – immer über dem Niveau der Selbstbeurteilungen (Schmid et al. 2013, Schmid/Erb/Fischer/Kind/Fegert 2017, Jenkel/Schmid 2018); seit Herbst 2020 hat sich dies jedoch gewendet. Erstmals befinden sich die durchschnittlichen Werte aus den Befragungen der Kinder und Jugendlichen über den Werten aus den Befragungen der Betreuenden. Der Effekt ist in jeder der drei Hauptskalen statistisch signifikant.
Was bedeuten diese Ergebnisse?
Dass die Kinder und Jugendlichen, welche in jüngerer Zeit in den Institutionen aufgenommen wurden, über eine stärkere psychische Belastung berichten, ist vor dem Hintergrund, dass einerseits die Krise selbst als multidimensionaler Stressor zu sehen ist (Brakemeier 2020), und dass sich andererseits viele problematische familiäre Situationen in der Krise vermutlich zugespitzt haben (Boserup et al., 2020, Brooks et al. 2020, Campbell, 2020, Plank 1999, Usher et al. 2020; WHO, 2020), nachvollziehbar.
Dass diese Entwicklung durch die sozialpädagogischen Bezugspersonen jedoch nicht gleichermassen gesehen wird und diese die psychische Belastung der von ihnen betreuten Kinder und Jugendlichen nun erstmals niedriger einschätzen, sollte dringend hinterfragt werden. Sind wir an einem Punkt, wo wir plötzlich drastisch unterschätzen, wie es den Kindern und Jugendlichen geht? Woran könnte dies liegen?
Integras und das Team-EQUALS möchten dem Phänomen genauer auf den Grund gehen und würden sich freuen, mit Ihnen über das Thema in einen Austausch zu kommen – ein Online Seminar dazu ist in Planung.
Unsere Ergebnisse finden Sie unter www.equals.ch/factsheets in Form einer visualisierten Zusammenfassung. Sie können dort auch die Möglichkeit nutzen, den Blog zu abonnieren. Damit bleiben Sie rund um EQUALS informiert.
Quellen
Boserup, B., McKenney, M., & Elkbuli, A. (2020). Alarming trends in US domestic violence during the COVID-19 pandemic.The American Journal of Emergency Medicine, 38 (12), 2753 – 2755.
Brooks, S. K., Webster, R. K., Smith, L. E., Woodland, L., Wessely, S., Greenberg, N., & Rubin, G. J. (2020). The psychological impact of quarantine and how to reduce it: rapid review of the evidence. The Lancet, 395 (10227), 912 – 920.
Campbell, A. M. (2020). An increasing risk of family violence during the Covid-19 pandemic. Forensic Science International: Reports, 2, 100089.
Döpfner, M., Melchers, P., Fegert, J.M., Lehmkuhl, G., Lehmkuhl, U., Schmeck, K., Steinhausen, H.C., & Poustka, F. (1994). Deutschsprachige Konsensus-Versionen der Child Behaviour Checklist (CBCL 4 – 18), der Teacher Report Form (TRF) und der Youth Self Report Form (YSR). Kindheit und Entwicklung 3, 54 – 59.
Jenkel, N., & Schmid, M. (2018): Lebensgeschichtliche und psychische Belastungen von jungen Menschen in freiheitsentziehenden Maßnahmen der Jugendhilfe, unsere jugend (70), 354 – 364
Plank, S. B. (1999). Children of the Great Depression: Social change in life experience. Contemporary Sociology, 28 (5), 551.
Ravens-Sieberer, U., Kaman, A., Otto, C., Adedeji, A., Devine, J., Erhart, M., Napp, A.-K., Becker, M., Blanck-Stellmacher, U., Löffler, C., Schlack, R. & Hurrelmann, K. (2021): Psychische Gesundheit und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen während der COVID-19-Pandemie. In D. Dohmen & K. Hurrelmann (Eds.), Generation Corona? Wie Jugendliche durch die Pandemie benachteiligt werden. (248-260). Weinheim Basel: Beltz Juventa
Usher, K., Bhullar, N., Durkin, J., Gyamfi, N., & Jackson, D. (2020). Family violence and COVID‐19: Increased vulnerability and reduced options for support. International journal of mental health nursing, 29, 549 – 552.